Montag, 11. April 2011

Erinnerung


Kurzum, es gibt einen Schleier von anderen Bildern, der sich über ihr Bild legt und es verschwimmen lässt, eine Last von Erinnerungen, die mich hindern, sie wie zum ersten Mal zu sehen, Erinnerungen anderer, die in der Luft hängen wie der Rauch unter den Lampen.
Italo Calvino, Wenn ein Reisender

Bisher hat die Zeit sich ihr als Gegenwart gezeigt, die voranschreitet und die Zukunft verschlingt; sie fürchtete ihre Schnelligkeit (wenn sie etwas Unangenehmes erwartete) oder empörte sich über sie (wenn sie etwas Schönes erwartete). Diesmal erscheint die Zeit ihr ganz anders; es ist nicht mehr die siegreiche Gegenwart, die sich der Zukunft bemächtigt; es ist die besiegte, gefangene, von der Vergangenheit davongetragenen Gegenwart.......
.......Dieses Gefühl, dieser unbezwingbare Wunsch zurückzukehren, enthüllt ihr auf einmal die Existenz der Vergangenheit, die Macht der Vergangenheit, ihrer Vergangenheit; im Haus ihres Lebens haben sich Fenster aufgetan, nach rückwärts gewandte Fenster auf das, was sie erlebt hat; von nun an wird ihre Existenz ohne diese Fenster nicht mehr denkbar sein....
Milan Kundera, Die Unwissenheit

Damit fängt das Missverständnis an: sie haben nicht dieselben Erinnerungen; beide haben von der Vergangenheit zwei oder drei kleine Situationen behalten, aber jeder seine; ihre Erinnerungen ähneln sich nicht; begegnen sich nicht; und sind nicht einmal quantitativ vergleichbar: der eine erinnert sich mehr an den anderen, als der sich an ihn erinnert; zum einen, weil die Gedächtniskapazität jeweils unterschiedlich ist (was noch eine für jeden annehmbare Erklärung wäre), aber auch (und das zuzugeben ist unangenehmer), weil sie füreinander nicht gleich wichtig sind
Milan Kundera, Die Unwissenheit

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